Donnerstag, 25. April 2024
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Meine Depression steht mir nicht im Weg

Gegen alle Widrigkeiten bis zum Motorradführerschein

Hallo liebe Biker:innen, mein Name ist Nicole, ich bin 29 Jahre jung und leide seit ca. 15 Jahren an Depressionen, Panikattacken und einer Angststörung. Was das mit meinem Führerschein der Klasse A zu tun hat? Das erzähle ich euch in diesem Beitrag.


Du bist selbst betroffen? Oder machst dir Sorgen um Freunde oder Angehörige? Die Stiftung Deutsche Depressionshilfe bietet Betroffenen und Angehörigen vielfältige Informations- und Hilfsangebote. Du bist nicht allein!


Der Anfang des Bösen

Wie bei den meisten Menschen mit psychischen Problemen liegt auch bei mir der Auslöser meiner Depressionen in meiner Kindheit.

Depressive Mutter, alkoholkranker Vater und generell sehr wenig Liebe, dafür sehr viel Geschrei. Das schlimmste aber, wir Kinder, insgesamt 3 wurden einfach für alles verantwortlich gemacht. Ich wurde oft als „Scheißkind“ betitelt. Lob und Anerkennung gab es nicht und nach vielen vielen Jahren, mit ca. 14 Jahren merkte ich: Ich hab ein Problem. Tagelange Heulkrämpfe, die Frage was ich in diesem Leben eigentlich will und permanenter Selbsthass nahmen mich ein. Das Leben ging mehr oder weniger an mir vorbei.

Ich habe nicht viel aus mir und meiner Zukunft gemacht, schließlich hasste ich das Leben. Doch ich wusste immer, wenn ich mal 40 bin, dann fahre ich Motorrad! War das mein Strohhalm in all dieser dunklen Zeit? Vermutlich!

Dein Ernst?!

Mein Partner kam 2019 zu mir und sagte: „Ich melde mich zur Fahrschule an“. Ääähhh? Spinnst du? Nein! Das wollte ich doch machen. Oh man. Er kam so glücklich von seinen Fahrstunden zurück, suchte sich coole Mopeten im Internet und immer mehr Helme zogen bei uns ein. ICH WILL AUCH! 

Schmollend zog ich mich zurück und die Gedanken kreisten. Kann ich das? Schaffe ich das? Trau ich mir das zu? Fahrstunden – Gefahren – Bin ich verantwortungslos meiner vierjährigen Tochter gegenüber? Uff! Das war wirklich nicht leicht. 

„Ich konnte nicht einkaufen, war lange arbeitsunfähig, kein Spaziergang, kein Lachen, keine Perspektive. Doch ich habe es geschafft!“

Jetzt oder nie!

Nach 1,5 Jahren überlegen hatte ich die Nase voll. Mir ging es seelisch so schlecht, weil ich einfach nicht wusste, was ich machen sollte. Nun bin ich mit dem Chopper meines Mannes schon so oft über den alten Flugplatz geflogen und hatte dabei so unglaublich viel Spaß, jetzt will ich auch mein eigenes Motorrad haben. Puh, was habe ich geschwitzt, meine Knie haben gezittert, meine extrem nervöse Blase (dazu später mehr) ist fast geplatzt.

Im April 2021, habe ich mich angemeldet! Statt Freude, bin ich jedoch wieder nur am nachdenken. War das jetzt wirklich richtig? Es dauerte 10 Wochen bis endlich der Bescheid der Verkehrsbehörde eintrudelte. Den Theorieunterricht habe ich gekonnt geschwänzt, denn eine Gruppenversammlung mit 17-Jährigen hat meine Angststörung nicht zugelassen.

Warten. Warten. Warten. Der Anruf! Jetzt geht es bald los mit Fahrstunden. Denkste! Wieder warten.

Endlich fragt mein Fahrlehrer nach einem Termin. Ich wollte das alles so kurz wie möglich gestalten und keine extra Fahrstunden nehmen, daher sagte ich: „Ich nehme gleich die große Maschine und keine 125er“. „Ok, dann musst du aber noch drei Wochen warten, weil wir haben keine große Maschine da und danach bin ich nochmal drei Wochen im Urlaub“. 

WTF! Ich wollte dieses Jahr noch fahren!

Nicole Meine Depression steht mir nicht im Weg Motorradfahren hat mir ein großes Tor zur Welt geöffnet
Trotz Depression und Angststörung stellt sich Nicole der Herausforderung und macht den Motorradführerschein.

Ich muss pinkeln!

Die Wochen vergingen und ich war wieder am zweifeln. Ist das vielleicht ein Zeichen von oben? Soll ich einfach keinen Führerschein machen? Dann die erste Fahrstunde. Ich benötige ca. 20 Minuten zur Fahrschule. Ich zitter, meine Fettverbrennung liegt bei 140% vor lauter schnaufen und schwitzen. Panik! 

Ich lege meine Lederklamotten an, im Hochsommer, bei 30 Grad im Schatten. Ja Moin! Mist! Ich muss pinkeln. Alles wieder aus, alles wieder an. Ich setze mich ins Auto. Ich muss pinkeln! Wenn das so weitergeht, dann komme ich nie an. Zitternd wieder zurück ins Haus, alles aus, alles wieder an. Ich fahre keine 5 Minuten – pinkeln. Ich komme in der Stadt an, wo die Fahrschule liegt. Soll ich es schreiben oder wollt ihr raten? Richtig! PINKELN. Ich biege also nach rechts, statt links ab und fahre zu Kaufland. Alles aus, alles wieder an. 

Warum sollte es leicht sein?!

Wenn man als Mensch schon selbst nicht viel von sich hält und dazu noch panische Angst vor diesem neuen Gerät unter sich hat, dann sollte wenigstens der Fahrlehrer passen. 

Meine erste Stunde, mittlerweile bin ich so aufgeregt, dass ich meine Blase schon gar nicht mehr spüre. “Du schwingst nicht“. Bitte? Ich sitze zum ersten Mal auf einer Kawasaki Z650. Das Motorrad ist mir mit 1.85m viel zu klein – und viel zu zickig. Auf dem Chopper war alles so smooth. Ich hatte viel Platz und konnte mich ausprobieren. Nun wird von mir verlangt, dass ich ein fremdes Motorrad auf einem wirklichen lachhaften Übungsplatz perfekt durch den Slalom bewege?! 

„Wärst du ein Mann, dann würde ich sagen, wie mit einer Frau im Bett. Du musst schwingen.“ Ich weiß ja nicht, wie du im Bett bist, aber geschwungen hat bisher noch keiner meiner Verflossenen. „Biken ist nichts für dich, Chopper ist sowieso scheiße. Nur Angeber fahren Chopper. Ich brauch was schnelles unter dem Hintern, eine richtige Renne!“

Witziger Funfact: Er selbst besitzt überhaupt kein Motorrad, weil es seine Frau verbietet. Das habe ich leider erst gegen Ende erfahren.

Nach den ersten Fahrstunden bin ich total verheult nach Hause gekommen. Ich habe geheult wie ein kleines Mädchen. Ich habe mich angegriffen gefühlt, da ich ja immerhin schon echt viel konnte. Seine Worte „Ich schwinge nicht.“ F!ck Dich! Ich war am Boden zerstört. 

Mein Mann wusste auch nicht was er tun sollte und so stellten wir die Frage in den Raum, ob es einfach nichts für mich ist. Selbsthass, Zweifel, tiefe dunkle Gefühlslöcher.

„Jetzt wusste ich, Fahrlehrer du bist fällig!“

Halt mal mein Bier!

Verzweifelt und verunsichert saß ich bei meinem Nachbarn und erzählte von meinem sexistischen Fahrlehrer. Ich weinte. Schon wieder. Mein Nachbar meinte nur „Halt mal mein Bier!“ Öh, ok? Er schob mir eine alte Schwalbe vor die Nase und sagte: Fahr jetzt!

Ich konnte überhaupt nichts sagen, da saß ich schon drauf und er öffnete das Tor. Wie viel PS hat das Ding? Vielleicht 12? Es war soooooo eine Gaudi! Mein Fahrlehrer hat mich auch nach acht Fahrstunden nicht auf die Straße gelassen und nun fuhr ich, wenn auch eher lahm, auf der Straße. Andere Nachbarn klatschten und machten Videos, wie ich durch das Dorf knatterte. Jetzt wusste ich, Fahrlehrer du bist fällig! 

Mein Mann kam zur nächsten Fahrstunde mit und komischerweise war der Lehrer ganz handzahm. Er fragte sogar, ob er sich mal auf den Chopper setzen dürfe. Das sah so lächerlich aus! 

Ich traute mich immer mehr, fuhr endlich raus auf die Straße und zeigte diesem wirklich armen Kerl von Fahrlehrer, was ich alles auf dem Kasten habe! 

Man muss halt einfach machen. Ich futterte eine Tafel Schokolade vor jeder Fahrstunde, musste noch immer 10x pinkeln rennen und zitterte trotzdem wie eine Irre, ABER ich habe es durchgezogen. Ich war einfach mal mutig und habe mir gedacht, was soll passieren?! Wenn ich falle, dann falle ich! Ändern kann ich das dann auch nicht mehr. Ich trage super Schutzkleidung, ich fahre vorausschauend und übertreibe nicht. 

Nicole Meine Depression steht mir nicht im Weg Motorradfahren hat mir ein großes Tor zur Welt geöffnet
Nicole hat es geschafft! Heute sagt sie: „Motorradfahren hat mir ein großes Tor zur Welt geöffnet.“

Die Familie kann man sich nicht aussuchen, das Motorrad schon

Endlich bestanden! Meine Prüfung war ein Kinderspiel, da wir sogar durch mein Dorf gefahren sind. Ich habe es geschafft! Ich! Die, die früher nicht einmal zum Briefkasten gehen konnte vor lauter Angst. Ich konnte nicht einkaufen, war lange arbeitsunfähig, kein Spaziergang, kein Lachen, keine Perspektive. Doch ich habe es geschafft! Und das schlimme daran ist, es lag nur an meinen Gedanken.

Traut euch! Am Ende ist es immer gar nicht so schlimm, wie man denkt. 

Im Dezember 2021 habe ich mir zu Weihnachten nun ein Motorrad gekauft und streichel es jeden Tag. Ist das noch normal oder auch schon eine Krankheit?

Eure Ängste sehen so groß aus, doch umso weiter ihr fahrt, desto kleiner werden sie.

„Sorgenfrei werde ich nie sein, aber Motorradfahren hat mir ein großes Tor zur Welt geöffnet.“

Die guten Worte zum Schluss

Ich bin bei weitem nicht angstfrei und halte vor engen Kurven oft die Luft an oder verhau sie auch mal komplett. Ich lerne mein Motorrad jetzt in Ruhe kennen, denn ohne Fahrlehrer fährt es sich gaaanz anders. Grundfahraufgaben habe ich verflucht, doch übe sie jetzt tatsächlich wieder, da es dich und dein Motorrad zusammenbringt. 

Vielleicht hatte jemand von Euch schon einmal eine Therapie?! Genau so fühlt es sich an! Helm auf, Gedanken aus. Es ist keine Zeit um über Dinge zu grübeln, ob man mehr verdienen könnte, ob man eine glückliche Ehe führt, ob die Kinder gut erzogen werden. Unter DEINEM Helm, konzentrierst Du dich auf die Straße, riechst die frische Luft, spürst den Wind und das knallen der Fliegen auf dein Visier. Du schlüpfst in deine Klamotten und fühlst dich plötzlich ultra stark. Und am Abend, nach einer Tour bist Du einfach glücklich. Erschöpft, aber glücklich! So glücklich wie ich schon seit sehr langer Zeit nicht mehr war. 

Sorgenfrei werde ich nie sein, aber Motorradfahren hat mir ein großes Tor zur Welt geöffnet. Ich sperre mich nicht mehr ein, ich fahre raus. Ohne Plan und ohne Ziel.

Ein großes Danke geht an die SHE RIDES Community (Facebook-Gruppe), die mich immer unterstützt hat und mit Rat und Tat zur Seite steht. 

DlzG, Nicole

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Nicole
Nicole
Seit 2021 fährt Nicole Motorrad. Der Weg zum Motorradführerschein war für sie kein leichter. Dennoch hat sie es geschafft und macht heute der SHE RIDES Community mit ihrer Geschichte Mut.

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3 Kommentare

  1. „Ich sperre mich nicht mehr ein, ich fahre raus. Ohne Plan und ohne Ziel.“

    Oh wie schön beschreibst Du das !! Genau so ist es !
    Allzeit gute Fahrt, Euch allen.

  2. Danke liebe Nicole, ich habe mich total in deinem Text wiedergefunden.
    Auch ich habe Depressionen und Angststörungen und ziemlich Schiss vor dem Führerschein gehabt, (ich habe den 125er also B196) gemacht,
    aber ich habe es durchgezogen, ich habe noch keine Maschine, werde es aber trotz Angst im nächsten Jahr probieren, vielleicht auch ein bisschen um mir selbst zu zeigen das es nichts gibt wovor ich Angst haben muss. Vielleicht brauche ich genau das, ich weiß es nicht, aber ich habe ebenso den Führerschein trotz Panik geschafft, bin zwar mega stolz auf mich habe aber weiterhin die Hosen voll bei dem Gedanken zu fahren. Ich denke trotzdem das die Angst mit der Erfahrung verschwinden wird, was soll man auch nach 5 Fahrstunden für ne Sicherheit haben?! War ja beim Autoführerschein genauso.

    Ich danke dir für deinen Mutmachenden Text.

  3. Auch wenn der Text älter ist, danke für ihn. Kann mich gerade gut (denke ich) in die Situationen rein versetzen. Habe vor kurzem mit 49 den Schein gemacht und genieße jede Fahrt.
    Motorrad fahren ist das beste Medikament gegen seelische Probleme.
    Wünsch Dir allzeit gute Fahrt und das Du wieder heil zu Hause ankommz.

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